Polytope - Erkenntnistheorie und Wissenschaften
Kira S
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Allgemein
Jeder, der nach Erkenntnissen sucht und sie sichern möchte, tut gut daran,
gelegentlich nicht nur die Fakten und Schlussfolgerungen zu überprüfen,
sondern auch die angewandten Methoden zu überdenken:
- Sind sie angemessen?
- Wo liegen ihre Grenzen?
- Wie geht man mit diesen Grenzen um?
Ein typisches Beispiel für den Umgang mit begrenzten Methoden ist die
Rechtsprechung: Das primäre Ziel ist Gerechtigkeit, aber die Beweislage
ist meist unvollkommen, und Urteile müssen trotzdem in vertretbarer Zeit
gefällt werden. Sie sind zudem durch den Ermessensspielraum der Richter
subjektiv geprägt.
So soll es bei den Wissenschaften nicht sein: Das primäre Ziel sind
gesicherte Erkenntnisse. Durch den Publikationsdruck wird es aber unterlaufen
und durch das persönliche Ziel publizierbarer Ergebnisse ersetzt. Um so
wichtiger sind hier die Überprüfungen der Ergebnisse im Rahmen der angewandten
Methoden und das Überdenken der Methoden. Es folgen ein paar Beispiele
aus verschiedenen Wissenschaften.
Alte Texte
Verschiedene Wissenschaften beschäftigen sich mit alten
und oft zitierten Texten, etwa der Bibel oder den Werken von Homer. Diese
Texte wurden früher immer wieder abgeschrieben und dabei versehentlich
ober bewusst (entsprechend dem Zeitgeist oder persönlicher Neigungen)
verändert. Dasselbe gilt für die vielen Kommentare und Deutungen dazu.
Unkritische Wissenschaftler bauen auf den üblichen Textversionen und
Deutungen auf. Andere verlassen sich nicht auf anerkannte Autoritäten,
sondern vergleichen verschiedene Versionen, sehen die Texte
im Wandel der Zeit, suchen nach Stil- und Formulierungsvariationen
inerhalb des Textes und zeigen, wo Unklarheiten sind. Einer, den ich
methodisch unterstützte, sagte mir: "Meine wichtigsten Ergebnisse verdanke
ich meinem schlechten Gedächtnis. Ich konnte mir nie merken, was andere zu
dem Text gesagt hatten, und machte mir deshalb meine eigenen Gedanken."
Philosophie
Ich hab mich kaum mit Philosophie beschäftigt und
weiß nicht, wie weit Philosophen ihre eigenen Methoden überdenken.
Aber sie
beschäftigen sich mit "Erkenntnistheorie", mit Fragen, was man erkennen kann
und welche Voraussetzungen dafür gelten. Platon zeigte, wie sehr das
Weltbild eines Menschen von seinen Erfahrungsmöglichkeiten abhängt.
René Descartes versuchte das Erkennen auf das Denken zu reduzieren. Sein
"cogito ergo sum" (Ich denke, also bin ich) war eigentlich kein logischer
Schluss, sondern ein Postulat, dass alles vorhanden ist, was zum Denken
erforderlich ist. Immanuel Kant versuchte mit seinen "Kategorien" die
Grundlagen der Erkenntnis genauer anzugeben. Jean Paul Sartre hob hervor,
dass es keine festen Grundlagen gibt, auf die man bauen kann.
Physik:
In dieser grundlegenden Naturwissenschaft kommen
manchmal Vorstellungen von Allmacht und Allwissenheit auf: Mit einem
starken Hebel und einem festen Punkt will man die Welt aus den Angeln heben.
Mit der genauen Kenntnis der Welt zu einem Zeitpunkt will man ihren Zustand
zu allen Zeiten davor und danach berechnen. Mit den zu seiner Zeit bekannten
Naturgesetzen glaubt man die Natur schon fast ganz zu verstehen.
Viele wichtige Erkenntnisse wurden aber gerade dadurch gefunden, dass ein
paar große Denker die Möglichkeiten der Erkenntnis hinterfragten:
Ludwig Boltzmann berücksichtigte, dass jede Messung nur mit einer beschränkten
Genauigkeit möglich ist, benutzte deshalb Wahrscheinlichkeiten und konnte
mit der Statistischen Physik die Wärmelehre ausbauen. Albert Einstein
verwarf das unrealistische Konzept des starren Körpers und erkannte, wie
die Eigenschaften von Messinstrumenten die Möglichkeit des Messens
einschränken. Das führte zur speziellen Relativitätstheorie. Nach Aufgabe
des Konzepts eines kräftefreien Raumes war der Weg frei für die allgemeine
Relativitätstheorie. Werner Heisenberg berücksichtigte, dass durch
Messungen die Welt verändert wird und dabei Ergebnise aus vorangehenden
Messungen verwischt werden, quantisierte das mit der Unschärferelation
und kam schließlich zur Quantenmechanik. Dabei wurde das Konzept einer
Natur an sich ersetzt durch die Natur, wie wir sie erkennen können.
Mathematik
In der Mathematik wurden immer wieder scheinbare
Widersprüche gefunden, deren Auflösung im Zusammenhang mit Fortschritten der
Wissenschaft stand. Ein altes griechisches Beispiel ist der Wettlauf zwischen
Achilles, dem schnellsten Läufer seiner Zeit (10 m/sec) und der schnellsten
Schildkröte (1 m/sec), die einen Vorsprung von 10m bekommt. Sie starten,
Achilles erreicht den Startplatz der Schildkröte, aber sie ist schon einen
Meter weiter. Er erreicht diesen Platz, aber sie ist schon 10 cm weiter.
Das wiederholt sich unendlich, und dabei kommt Achilles nie bei der
Schildkröte an. Andererseits müssen sie sich nach 10/9 sec treffen -
ein scheinbarer Widerspruch, der erst im 17. Jahrhundert aufgelöst wurde
durch das Verstehen von reellen Zahlen und Grenzwerten.
Nachdem die Mathematik durch Formalisierung viele "Widersprüche"
entschärft und viel
an Konsistenz gewonnen hatte, entwarfen ein paar Mathematiker zu Anfang
des 20 Jahrhunderts den Plan, ein Axiomensystem aufzustellen, aus dem man
alle Ergebnisse der Mathematik ableiten und Aussagen auf ihre
Gültigkeit hin überprüfen kann. Kurt Gödel bewies für gewisse einfache
Axiomensysteme die Überprüfbarkeit von Aussagen, zeigte aber, dass das
für größere Systeme nicht mehr gilt. Insbesondere fand er folgendes aus dem
Buch
"Gödel, Escher, Bach" zitierte Ergebnis: "Alle widerspruchsfreien axiomatischen
Formulierungen der Zahlentheorie enthalten unentscheidbare Aussagen."
Vereinfacht: "Die natürlichen Zahlen sind nicht genau
beschreibbar." Das warf schlagartig das Konzept des allgemeinen Axiomensystems
um und war Grundlage für weiter reichende Forschungen. Gödels Beweis
beruhte darauf, mathematische Formeln und Aussagen in Zahlen zu kodieren,
und eine Aussage über Zahlen zu finden, welche die Unwahrheit des Satzes
besagt, der ihrem eigenen Code entspricht. Das ist eine mathematische Form
des Satzes "Diese Aussage ist falsch.", der weder wahr noch falsch sein kann.
Während oben nur die Überprüfung von Methoden gefordert wurde, zeigt
Gödels Satz die Notwendigkeit, zur Überschreitung von Grenzen Erweiterungen
vorzunehmen, und die Freiheit, wie man das tut. Beispiele:
- Ein altes Beispiel sind die 5 Axiome von Euklid zur ebenen Geometrie.
Nachdem man lange vermutete, die ersten vier seien ausreichend, fand man
schließlich, dass man die Wahl zwischen dem 5. und zwei Alternativen hatte:
Das "Parallelenaxiom" lautet "Zu jeder Geraden und jedem Punkt außerhalb davon
gibt es genau eine Gerade durch den Punkt, welche die Gerade nicht schneidet."
Dieses liefert die Euklidische Geometrie, welche der normalen Erfahrung
entspricht. Die Alternativen ersetzen "genau eine" durch "keine" und durch
"mehrere" und ergeben die spärische Geometrie und die hyperbolische Geometrie.
- Ein neueres Beispiel ist die axiomatische Mengenlehre: Man kann wählen
zwischen einer Mengenlehre mit oder ohne Auswahlaxiom und im ersten Fall weiter
zwischen einer mit oder ohne Kontinuumsaxiom. Für die normale Arbeit
werden beide Axiome benutzt.
- Weniger befriedigend wäre es z.B., wenn bewiesen
würde, dass man nicht feststellen kann, ob es unendlich viele Primzahlzwillinge
gibt, und man dann mit zwei Varianten der "natürlichen" Zahlen arbeitet.
Die Situation erinnert an die der Physik: Wir untersuchen keine "Natur" an
sich, sondern Objekte im Rahmen unserer Definitionen und
Erkenntnismöglichkeiten.
In der Physik gibt es Beobachtungsergebnisse, und wir (Menschen) haben die
Wahl zwischen verschiedenen Modellen der "Natur", welche die Beobachtungen
gleich gut beschreiben. In der Mathematik haben wir die volle Freiheit für
Definitionen, so lange wir keine Widersprüche entdecken.
(C) Kira S